Wahlsysteme: Formen des Wahlrechts und Wahlsysteme

Wahlsysteme: Formen des Wahlrechts und Wahlsysteme
Wahlsysteme: Formen des Wahlrechts und Wahlsysteme
 
In der Regel ist jeder Erwachsene schon zur Wahl gegangen. Wie die Stimmabgabe abläuft, ist wohl auch jedem bekannt. Wer aber im Grundgesetz nachschlägt und liest, dass gewählt wird nach den Prinzipien der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl (Art. 38 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG), bekommt eine Ahnung, wie komplex und vielschichtig Wahlsysteme sein können.
 
 Formen des Wahlrechts
 
Bei der Form des Wahlrechts unterscheidet man zwischen allgemeinem oder beschränktem Wahlrecht. Allgemein ist das Wahlrecht, wenn es ab einem bestimmten Mindestalter allen Bürgern eines Staates zusteht. Beschränkt ist es, wenn es nur Angehörigen bestimmter Stände und Klassen oder nur den Männern zusteht. So erhielten in Deutschland die Frauen erst im Jahr 1919 das Wahlrecht, in der Schweiz gar erst 1971; in manchen Ländern haben die Frauen bis heute kein Wahlrecht. Ferner kann man unterscheiden zwischen gleichem und ungleichem Wahlrecht. Gleich ist es, wenn jeder Wähler über das gleiche Stimmgewicht verfügt (»one man one vote«). Ein ungleiches Wahlrecht praktiziert die Abstufung von Stimmenzahl oder -gewicht anhand von Alter, Familienstand, Besitz, Steuerleistung oder anderen Faktoren, so geschehen im Dreiklassenwahlrecht und im Pluralwahlrecht. Ferner können Wahlen öffentlich oder geheim sein sowie mittelbar oder unmittelbar. Bei der mittelbaren Wahl bestimmen die Urwähler Wahlmänner oder -personen, von denen dann die Abgeordneten oder andere Repräsentanten des Staates gewählt werden. Das war z. B. der Fall in Preußen bis 1918 und wird heute noch in den Vereinigten Staaten bei der Präsidentenwahl praktiziert.
 
 Wahlsysteme
 
Wichtig ist zudem das Wahlsystem, nach dem die Wahl abläuft. Hier kann man vom Grundtyp her zwischen zwei Wahlverfahren oder -systemen unterscheiden, nämlich dem Mehrheits- oder Persönlichkeitswahlrecht auf der einen Seite und dem Verhältniswahlrecht auf der anderen. Dabei gibt es bei beiden Systemen in der Praxis von Land zu Land unterschiedliche Modalitäten und Ausprägungen.
 
Das Mehrheitswahlrecht
 
Der Grundsatz des Mehrheitswahlrechts liegt darin, dass diejenige Person gewählt ist, die in einem Wahlkreis die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen absoluter und relativer Mehrheitswahl. Bei der absoluten Mehrheitswahl braucht der Sieger die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Gelingt dies keinem der Kandidaten, so ist ein zweiter Wahlgang notwendig. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Wie in Frankreich kann eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten erfolgen, die im ersten Wahlgang am besten abgeschnitten hatten. Oder es wird ein zweiter Wahlgang durchgeführt, bei dem beliebig viele, auch neue Kandidaten ins Rennen gehen können. In Großbritannien werden Wahlen nach dem System der relativen Mehrheitswahl abgehalten. Hierbei ist (in einem Wahlgang) gewählt, wer die größte Stimmenzahl erreicht. Ein Einwand gegen die Mehrheitswahl ist der, dass sie gegen die materielle Wahlgleichheit verstößt, da alle Stimmen der Minderheit unberücksichtigt bleiben.
 
Das Verhältniswahlrecht
 
Befürworter des Verhältniswahlrechts sprechen gegenüber der Mehrheitswahl von einem höchstmöglichen Maß an effektiver Wahlgleichheit bei diesem Wahlsystem. Das Verhältniswahlrecht wird auch als Proportional- oder Listenwahlrecht bezeichnet. Die Zahl der Abgeordneten, die dabei von der jeweiligen Liste gewählt werden, richtet sich danach, in welchem Verhältnis die für die Liste abgegebenen Stimmen zur Zahl der insgesamt abgegebenen Stimmen stehen. Kritiker sprechen bei diesem Wahlsystem von der Gefahr der Stimmen- und Parteienzersplitterung. Dem wirkt eine Klausel entgegen, die besagt, dass nur solche Listen auch Mandate erhalten, die einen bestimmten Prozentsatz der Gesamtstimmenzahl erreichen (in Deutschland angewendet bei der Bundestagswahl mit der Fünfprozentklausel; im Jahr 1999 vom Landesverfassungsgericht Nordrhein-Westfalen für die dortigen Kommunalwahlen verworfen).
 
 Das Wahlsystem in Deutschland
 
Nach dem Grundgesetz sind in der Bundesrepublik Deutschland die Vertretungskörperschaften des Volkes in Bund, Ländern, Kreisen und Gemeinden und zum Teil auch die Bürgermeister nach den Prinzipien der allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahl zu wählen (Art. 38 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG). Das Nähere regeln die jeweiligen Wahlgesetze.
 
Aktives und passives Wahlrecht
 
Das Wahlrecht, das der Bürger eines Landes besitzt, ist Ausdruck eines Grundrechts auf Teilhabe an der politischen Willensbildung. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem aktiven und dem passiven Wahlrecht. Das aktive Wahlrecht, auch Stimmrecht, ist die Befugnis, jemanden zu wählen. Das passive Wahlrecht, auch Wählbarkeit, ist die Befähigung, in ein bestimmtes Amt oder Mandat gewählt zu werden.
 
Befugnis zur Wahl
 
Die Befugnis zur Wahl knüpft an die Staatsbürgerschaft an. Durch den Vertrag von Maastricht von 1992 und den Vertrag von Amsterdam 1997 wurde eine Unionsstaatsbürgerschaft für die Europäische Union eingeführt. Danach kann jeder Unionsbürger, der in einem der Mitgliedsstaaten seinen Wohnsitz hat, dessen Staatsbürgerschaft er nicht besitzt, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ausüben.
 
Wahl zum Bundestag
 
Die Bestimmungen, die die Bundestagswahl regeln, finden sich im Bundeswahlgesetz in der Fassung vom 23. 07. 1993 und in der Bundeswahlordnung in der Fassung vom 08. 03. 1994. Das Wahlalter liegt bei 18 Jahren, es ist also jeder Deutsche aktiv und passiv wahlberechtigt, der das 18. Lebensjahr vollendet hat. Voraussetzung des Einzelnen für das Wählen ist, dass er (sie) in der Wählerliste (Stimmliste) des Wahlbezirks eingetragen ist. Man kann aber auch einen Wahlschein zur Briefwahl beantragen. Bei der Wahl hat jeder Wähler zwei Stimmen, die Erst- und die Zweitstimme. Mit der Erststimme wählt man den Wahlkreisabgeordneten, mit der Zweitstimme wählt man eine Landesliste. Wegen dieser Verbindung von Persönlichkeitswahl (bei der Erststimme) und Verhältniswahl (bei der Zweitstimme) heißt das Wahlsystem, das bei der Bundestagswahl zur Anwendung kommt, auch »personalisierte Verhältniswahl«. Entgegen dem Wortsinn, der sich ergeben kann, ist eigentlich nicht die Erst-, sondern vielmehr die Zweitstimme entscheidend für den Ausgang einer Bundestagswahl. Die sich ergebende Mandatsverteilung im Parlament muss nämlich grundsätzlich insgesamt dem Verhältnis der auf die Landeslisten entfallenen Stimmen entsprechen. Ein Ausgleich durch Überhangmandate erfolgt dann, wenn eine Partei mehr Direktmandate errungen hat, als ihr aufgrund der Zweitstimmen eigentlich zustehen. Ausgezählt werden die Zweitstimmen seit 1987 nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren. Dabei wird die Stimmenzahl für die jeweilige Partei mit den zu vergebenden Parlamentssitzen multipliziert und das Produkt durch die Gesamtzahl der Stimmen aller Parteien geteilt. Jede Partei erhält so viele Sitze, wie ganze Zahlen auf sie entfallen. Die dabei verbleibenden Restsitze werden in der Reihenfolge der höchsten Zahlen hinter dem Komma an die Parteien vergeben.
 
Landtagswahlen
 
Die meisten Landtagswahlen orientieren sich bei ihrem Wahlsystem an dem der Bundestagswahl. Ausnahmen bilden nur Bremen, Hamburg und das Saarland, die ein reines Listensystem (geschlossene Listen) anwenden, sowie Bayern, wo es bei der Landtagswahl offene Listen gibt, die andere Bundesländer nur bei der Kommunalwahl kennen. Die Wahlperiode der meisten Landtage ist fünf Jahre, einige werden auch auf vier Jahre gewählt.
 
Kommunalwahlen
 
Hier gibt es in einigen Bundesländern (so in Bayern und in Baden-Württemberg) die Möglichkeit, bei der Stimmabgabe stärker nach Präferenzen zu differenzieren. Die Wähler haben dabei die Möglichkeit zu kumulieren oder zu panaschieren. Beim Kumulieren kann der Wähler seine Stimmen — wenigstens zum Teil — auf einen Abgeordneten häufen, also kumulieren, beim Panaschieren ist er nicht an die Liste einer Partei gebunden, wenn er verschiedene Kandidaten berücksichtigen will.
 
 Das Wahlsystem in Österreich
 
Die Wahlen zum österreichischen Nationalrat erfolgen in gleichen, unmittelbaren, geheimen und persönlichen Verhältniswahlen. Aktiv wahlberechtigt ist jeder Staatsbürger, der vor dem 01. 01. des Wahljahres sein 18. Lebensjahr vollendet hat. Passiv wahlberechtigt ist, wer zum selben Stichtag sein 19. Lebensjahr vollendet hat. Geregelt ist das Wahlverfahren in der Nationalratswahlordnung von 1992. Für die Wahlen zu Landtagen und Gemeinderäten gelten die Wahlrechtsgrundsätze der Nationalratswahl. Im Gegensatz zur Nationalratswahl kann bei den Wahlen zu Landtagen und Gemeinderäten Wahlpflicht angeordnet werden.
 
 Das Wahlsystem in der Schweiz
 
Das Wahlsystem in der Schweiz setzt sich bei der Wahl zur Bundesversammlung aus verschiedenen Verfahren zusammen. Nach dem Verhältniswahlverfahren (Hagenbach-Bischoff-Verfahren) werden die 200 Nationalräte gewählt, die im Verhältnis zur Bevölkerung auf die Kantone verteilt sind (mit Anspruch eines jeden Kantons und Halbkantons auf mindestens einen Nationalrat). Die Mandate werden nach der Zahl der Kandidatenstimmen verteilt, die jede Partei insgesamt erhält. Mit Vollendung des 18. Lebensjahres sind alle Schweizer aktiv und passiv wahlberechtigt. Bei der Wahl der Ständeräte (zwei pro Kanton, einer pro Halbkanton) wird nach kantonalem Recht in der Regel das Mehrheitswahlrecht angewendet.
 
 
Dieter Nohlen: Wahlrecht u. Parteiensystem. Über die politischen Auswirkungen von Wahlsystemen. Neuausgabe Opladen 1990.
 Dieter Nohlen und Mirjana Kasapovic: Wahlsysteme u. Systemwechsel in Osteuropa. Genese, Auswirkungen u. Reform politischer Institutionen. Opladen 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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